Klappentext und Leseprobe "Wolfsverlust"

„Ein verwundeter Wolf, Panikattacken und der Kampf um die eigene Seele. Begleite Jan auf seiner intensiven Reise aus der Angst.“

 

Klappentext

Alles Negative im Leben passiert, um deine Willensstärke zu testen. Wohin führt dich der Weg? Wann gibt deine Seele auf? (Zitat des Krafttieres)

 

Begeistert geht Jan in seinem neuen Job als Dolmetscher zwischen Raubtier und Mensch auf. Das Leben im Wolfcenter scheint perfekt – nie war der junge Mann glücklicher! Doch als ein verwundeter Wolf ins Center kommt, bricht die harmonische Gemeinschaft auseinander. Vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten, wird Jan von Panikattacken heimgesucht, die ihn zwingen, einen Weg aus der Angstspirale zu finden. Dabei gerät nicht nur sein Leben in Gefahr!

Fortsetzung des Selbstfindungsromans, verschönert mit sieben handgemalten Zeichnungen von Anja Nehaus

 

Leseprobe

Der erste Tag im Wolfsgehege

 

Nach einer traumlosen Nacht schlug Jan die Augen auf und blickte verwirrt umher. Wo bin ich? Auf drei Seiten umgab ihn blankes Erdreich, nur durch ein fassgroßes Loch sickerte Sonnenlicht herein. Feuchte Luft umgab ihn, und es roch streng nach wildem Tier. Eine Hand fuhr zur Seite, berührte struppiges Fell und brachte dadurch die Erinnerung zurück. Mit wohligem Seufzen genoss Jan die Vertrautheit und tastete nach dem Herzschlag des großen Tieres, das dicht an ihn geschmiegt schlief. Als der junge Mann das stete Pochen unter den Fingern spürte, flutete ihn ein Gefühl von Dankbarkeit. Er lag bei seiner Familie – dem Wolfsrudel. Die weiße Polarwölfin an seiner Seite war die Rudelführerin Susa, daneben ruhte ihr Partner Rob. Auf Jans anderer Seite schliefen die Geschwister Maya, Lucy und – Jan. Der jüngste Wolf trug nicht nur denselben Namen wie der Mensch, er besaß auch die gleichen auffallend blauen Augen.

Rob öffnete die Lider ein wenig und musterte den Menschen. ›Na, wie ist es, mit Raubtieren zu schlafen?‹

Jan, der per Gedankensprache mit Tieren kommunizieren konnte, antwortete: ›Es ist ziemlich stickig hier drin. Die Höhle ist für euch fünf schon eng, aber wenn ich öfter bei euch schlafe, müssen wir sie erweitern.‹

Belustigt schnaubte der grau-schwarz-weiß gemusterte Rudelführer: ›Kaum angekommen, stellst du schon Ansprüche. Hat es dir nicht gefallen?‹

Für einen kurzen Moment schloss Jan noch einmal die Augen und nahm mit allen Sinnen die Gegenwart seiner Wolfsfamilie wahr: das leise Schmatzen, den Geruch, die Wärme. Er wollte diese Mixtur am liebsten in eine Schatzkiste stecken, damit er sie jederzeit wieder hervorzaubern konnte. ›Es war unbeschreiblich schön. Noch nie fühlte ich mich so sicher. Hier bei euch zu sein, ist viel besser, als nur von euch zu träumen. Allerdings macht ihr im Schlaf unmengen von Geräuschen: Ihr jault und stoßt kleine spitze Schreie aus, als ob euch eine besonders fette Beute durch die Wälder jagt.‹

Rob leckte über seine Pfote. Danach fuhr er damit durchs pelzige Gesicht, wobei er sein eigenes Ohr umknickte. Als Jan lachte, schaute der imposante Wolf ihn an. ›Juckt dir morgens nicht die Nase? Meine tut das immer.‹

›Warte, ich helf dir!‹ Vorsichtig schob Jan die weiße Susa ein Stück beiseite, was mit leisem Murren quittiert wurde. Sobald Robs Schnauze gut zu erreichen war, krümmte Jan die Finger und kraulte damit kräftig durch das gemusterte Fell.

Der Rudelführer seufzte genießerisch: ›Oh ja! Das ist prima! Viel besser als mit der eigenen Pfote. Noch ein bisschen fester!‹

Jans Bewegungen wurden stärker und er lachte erneut über Robs leicht entrückten Gesichtsausdruck. Durch die heftigen Bewegungen wurde die Wölfin angestoßen, die sich laut murrend bewegte.

›Schluss mit dem Tumult! Was soll das Geschubse?‹

Mit der freien Hand strich Jan durch ihr schneeweißes Fell. Dabei bewunderte er das Morgenlicht, welches die Höhle erhellte und die braunen Augen der Fähe zum Leuchten brachte. ›Gibt es irgendeine Stelle, an die du nicht rankommst? Dann kratze ich dir dort ordentlich durchs Fell.‹

Susa reckte den schmalen Kopf weit nach oben und offenbarte ihre Kehle. ›Am Hals! Aber bitte nur von oben nach unten. Nicht andersrum!‹

Gerührt schluckte Jan, als die Wolfsmutter ihm damit ihre verletzlichste Stelle anvertraute. ›Sehr wohl die Dame! Bist du sicher, dass du ein Wolf bist und keine Katze? Ich dachte, dass nur Felltiger es nicht leiden können, gegen den Strich gestreichelt zu werden.‹ Während Jan Susas Kehle wie gewünscht kraulte, gab sie Geräusche von sich, die einem Schnurren ähnelten.

Dass die Wolfsfamilie den jungen Mann so nah an sich heranließ, war ein besonderes Privileg. Zum Großteil lag es daran, dass er mit ihnen sprechen konnte und sie zudem mit viel Respekt behandelte. Das Rudel lebte in einem deutschen Wolfcenter. Der Leiter des Centers, Achim Kleier, hatte Jan vor kurzem eingestellt, um zwischen den oft missverstandenen Raubtieren und den Menschen zu dolmetschen. Insgesamt beherbergte das Center drei Rudel: in einem lebten vier Timberwölfe, im zweiten drei Polarwölfe. Doch Jan spürte zu dem fünfköpfigen Rudel, bei dem er die Nacht verbracht hatte, eine besondere Verbindung.

Die drei jüngeren Wölfe erwachten ebenfalls und beäugten den jungen Mann, der in ziemlich verdrehter Körperhaltung die Elterntiere kraulte.

›Ist das deine Morgengymnastik?‹, fragte der graue Jan-Wolf. ›Du bist gelenkiger, als ich dachte.‹

›Sehr witzig!‹, gab Jan zurück. ›Langsam aber sicher schlafen mir die Beine ein. Wie gut, dass ich jung genug für solche Abenteuer bin.‹ Geduckt trat der athletische Mann durch den Ausgang der Höhle nach draußen. Als er schließlich aufrecht stand, dehnte er seufzend seine Glieder und ließ den Blick über die Anlage schweifen, die unterschiedlich dicht mit Sträuchern und hochwachsenden Bäumen bepflanzt war. Erste grüne Blätter an den Ästen kündigten den Frühling an, doch noch ließ die kühle Morgenluft beim Atmen weiße Wölkchen aufsteigen.

Die Wölfe krochen ebenfalls einer nach dem anderen aus dem Bau. Ihre Morgengymnastik sah anders aus. Zunächst streckten sie die Vorderbeine lang aus und das Hinterteil hoch in die Luft. Danach reckten sie den zotteligen Kopf gen Himmel, machten sich immer länger und knickten die Hinterpfoten um. Zum Abschluss folgte ein kräftiges Schütteln, bei dem sowohl die Lefzen als auch einige Haare locker flogen.

›Was heißt jung im Vergleich zu anderen Menschen?‹, kam Susa noch einmal auf das Alter zu sprechen.

›Das erste Drittel meiner Lebenszeit ist vorbei. Menschen können im Schnitt achtzig bis neunzig Jahre alt werden‹, erklärte Jan. ›Wie alt seid ihr?‹

Ein wenig neigte sich Robs Kopf zur Seite, was ihm einen nachdenklichen Ausdruck verlieh. ›Keine Ahnung. Die Schwestern sind aus einem Wurf und Jan kam danach zur Welt.‹

›Wie lange seid ihr schon im Center? Wie seid ihr hierhergekommen?‹, bohrte Jan weiter.

Dieses Mal kam die Antwort von Susa, wobei ihre Stimme bedrückt klang: ›Ich wuchs in einem Land auf, in dem es deutlich kälter war als hier. Damals wurde ich in einem Kampf verletzt und wäre wahrscheinlich gestorben, wenn Menschen mich nicht gefunden und gesund gepflegt hätten. Viele Tage wurde ich in einer großen Kiste mit kalten Stäben durch die Gegend gefahren, bis die Menschen mich schließlich hierherbrachten – zu Rob.‹ Zum Schluss flüsterte Susa nur noch. Die Erinnerung an den Verlust ihrer ehemaligen Heimat schmerzte. All die Strapazen hatten für die wunderschöne Fähe erst dann ein gutes Ende genommen, als sie im Wolfcenter auf Rob traf. Seitdem lebte sie in Gefangenschaft, ohne weitere Gefahren fürchten zu müssen. Susa fuhr in festerer Tonlage fort: ›Rob hatte es hier zu Beginn nicht einfach. Sie wollten ihn mit anderen männlichen Wölfen in einem Gehege unterbringen, aber das funktionierte nicht.‹

Rob fügte hinzu: ›Ich war damals voller Angst. Die Erinnerung an meinen Weg ins Center ist verschwommen. Aber an riesige Berge, die das Gebiet meines damaligen Rudels eingrenzten, kann ich mich sehr gut erinnern. Es gab weite Ebenen, Wiesen, so weit man schauen konnte, mit reichlich Rotwild und Elchen. Wir waren ein stattliches Rudel von fünfzehn Wölfen. Doch bei einer Jagd wurde ich durch einen Bären so schwer verletzt, dass das Rudel mich zum Sterben im weichen Gras zurückließ. Was die Menschen mit mir anstellten, weiß ich nicht mehr. Die schmerzhaften Tage bestanden hauptsächlich aus Schlaf. Als ich wieder klar denken konnte, umgaben mich diese Zäune und ein Rudel, das mir ähnelte. Um meine Furcht nicht zu zeigen, verhielt ich mich den anderen Wölfen gegenüber sehr dominant und musste deshalb lange Zeit allein in einem Gehege leben. Dann brachten sie mir Susa.‹ Seine schwarzen Augen nahmen einen weichen Zug an. ›Ab dann wurde alles besser. Susa brauchte jemanden, der sie vor den Menschen beschützte.‹

›In seiner Nähe fühle ich mich sicher. Ich bin glücklich, so einen starken Partner gefunden zu haben.‹ Susa schmiegte den Kopf gegen den des schwarz-weiß-grau gemusterten Wolfes.

Rob knabberte zärtlich ihr weißes Ohr und leckte danach kräftig über die schmale Nase.

Leise brummend genoss Susa die rau wirkenden Zuneigungsbekundungen. Immer wenn der Rudelführer aufhörte, stupste sie ihn auffordernd an, damit er mit der Liebkosung fortfuhr. Schließlich verharrten sie nebeneinander, wobei Rob den großen Kopf auf Susas Schnauze bettete. Der Farbverlauf der beiden Felle ging in perfekter Harmonie ineinander über. Susas schneeweißes Fell wurde im vorderen Bereich der männlichen Schnauze fortgeführt. Erst zwischen Robs dunklen Augen wechselte die Farbe in ein kräftiges Grau, um auf der oberen Kopfpartie ins Schwarz überzugehen.

Jan konnte den Blick nicht von dem schönen Paar abwenden. Das tiefe Gefühl von Verständnis, Respekt und bedingungslosem Vertrauen zwischen den beiden Rudelführern war beinahe greifbar. Unerwartet fuhr ein kleiner Stich in Jans Herz. Auch wenn der Wolfsfreund sich für die beiden freute und besonders seit der letzten Nacht bei den Wölfen spürte, Teil einer Familie zu sein, so fehlte ihm doch eine Partnerin, mit der er sein Glück teilen konnte. Ohne es laut auszusprechen, formulierte er einen Wunsch: Ich hätte gerne jemanden, der genau die gleichen Gefühle bei mir auslöst. Vor dem inneren Auge tauchte eine schlanke Frau mit blonden Locken auf: Silvia. Die langjährige Beziehung war vor einigen Monaten zerbrochen, weil Jans Ex-Freundin mit seiner spirituellen Denkweise und der Tierkommunikation nichts anfangen konnte. Doch Jan wünschte sich eine Frau, die ihn so liebte, wie er war. Sie sollte ihn vervollständigen und seine Leidenschaft zu Wölfen teilen. Als Susa ihm über den Arm leckte, schüttelte Jan energisch den Kopf, um mit den Gedanken wieder beim Rudel anzukommen. ›Also wurden eure drei Kinder im Gehege großgezogen?‹

Die junge Wölfin Lucy übernahm die Antwort, ließ dabei die sandfarbenen Ohren ein wenig hängen. ›Ja, wir kennen nichts anderes. Aber wir lieben die Geschichten unserer Eltern über ihre ursprüngliche Heimat, von Wäldern, Seen und Schneelandschaften. Wie schwer mag es erst für die beiden sein, dass sie das alles nie wiedersehen werden.‹ Sie leckte den Eltern über die Nasen.

Mitfühlend tätschelte Jan die Tiere. ›Auch ich möchte gern erfahren, wo ihr herkommt, wie ihr ursprünglich gelebt habt. Schließlich ist es jetzt meine Aufgabe, zwischen eurer Rasse und den Menschen zu vermitteln. Wir wollen lernen, wie ihr lebt und was ihr braucht, um glücklich zu sein. Herr Kleier ist wirklich darum bemüht, dass es allen gutgeht.‹

›So lange es diese Zäune gibt, wird es uns nicht gutgehen. Wie sollen wir jagen? Das Revier verteidigen? Die Umgebung ist angenehm, aber sie entspricht nicht unserer Lebensweise!‹ Traurigkeit schwang in Robs Stimme mit.

Der Wolfsfreund nickte verständnisvoll. ›Wie sieht dein perfektes Leben aus?‹

›Draußen, in der freien Natur, in einem großen Gebiet. Ich möchte meiner Familie Berge und Flüsse zeigen. Ihnen beibringen, wie man Rivalen verscheucht und Hirsche hetzt. Dann bin ich lebendig, stark, gleichzeitig auch verletzlich.‹ Robs Augen leuchteten. ›Es ist ein berauschendes Gefühl, wenn die Beute gerissen vor dir liegt oder das sattgefressene Rudel zusammen ausruht. Die Sehnsucht danach ist tief in mir verwurzelt. Eines Tages möchte ich es wieder erleben.‹ Lange Zeit hingen die leidenschaftlichen Worte in ihren Köpfen, bis der Rudelführer leise hinzufügte: ›Hier geht das nicht. Werdet ihr uns irgendwann freilassen?‹

›Wahrscheinlich nicht. Dann würden Herr Kleier und alle, die hier im Center arbeiten, ihre Arbeit verlieren und könnten die Familien nicht mehr ernähren.‹

Rob brachte es auf den Punkt. ›Das ist nicht unser Problem! Aber Geld damit zu verdienen, Tiere ihrer Freiheit zu berauben und zur Schau zu stellen, ist keine Lösung.‹

Insgeheim stimmte Jan dem Wolfsvater zu. Doch wie sollte er das direkt an seinem ersten Tag Herrn Kleier erklären?